Herrnhuter Losungen 1.April 2020
Ich will mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens (Jesaja 65,19)
Jesus spricht zu seinen Jüngern: Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen (Joh 16,22)
Liebe Leser*innen,
Unsere Tageslosung erinnert an mich an die Traurigkeit des kleinen Mädchens, das von der Lehrerin ungerecht behandelt worden war und gehofft hatte, Mama und Papa würden protestieren und für seine Version der Geschichte kämpfen. Aber Papa war nie da und Mamas Nerven waren zu schwach, um sich mit einer Autoritätsperson anzulegen, und Oma stapfte mit dem Fuß auf und meinte: „Kinder sollen ihren Eltern Freude machen. Und jetzt will ich nichts mehr hören von deinem Gejammer“. Die Lektion des Lebens: Reiß dich zusammen! Zeig nicht, wie es dir geht, denn das will keiner wissen! Damit nervst du nur. Damit gefällst du nicht. Was gefällt, ist: was Freude macht. Es gefällt die Illusion, alles sei in Ordnung.
Vielleicht hatte ich es verdient – ich war ein weinerliches Kind und übte mich beständig darin, meinen Willen mit Gejammer und Gezeter durchzusetzen. Hier auf Grenzen zu stoßen konnte heilsam sein. Vielleicht habe ich auch sinnvollerweise so gelernt, dass Maskentragen manchmal überlebensnotwendig ist für verletzliche Seelen. Vielleicht muss jede*r lernen, dass die Empathiefähigkeit der Mitmenschen nicht unendlich ist, und es deshalb eine Lüge gibt, die nötig ist, um als soziales Wesen zu überleben.
Ich kann Tritojesaja, jenen Mann, der Gott die Worte unser Tageslosung in den Mund legte, verstehen. Endlich war das Volk aus dem Exil zurück in der Heimat, ihr größter Wunsch erfüllt, das Grundstück für den neuen Tempel bereitgestellt, was nie jemand für möglich gehalten hätte, alles lief halbwegs nach Plan – und nun ist es immer noch nicht gut. Nun wird der Lieferengpass bei den Steinen und die Faulheit des Vorarbeiters zum Grund, sich nicht freuen zu können. Da kann Gott schon mal der Kragen platzen, und er einfordern, dass sein Volk den Blick für das Wesentliche entwickelt. Auf das Gelungene schaut, das Glas als mindestens halbvoll erkennt. Sich seiner Kraft erinnert und aus ihr schöpft. Und darum eine gute Miene macht zum gar nicht so bösen Spiel. Widerstandskraft gegen die Unabwägbarkeiten des Lebens zu entwickeln, ist eine gute Sache. Freude empfinden zu können noch mitten im Leid, die Chance zu wittern in der Krise, das sind Resilienzfaktoren, die wir brauchen um mit den Traumata, die das Leben schlägt, fertig zu werden. Gott meint es sicher gut mit seinem Volk, wenn er verlangt, darauf zu achten, dass die Stimme des Weinens und Klagens nicht übermächtig werden. Vielleicht ist das auch gute Lektion für uns Deutsche, gelten wir doch als Volk von Jammerern. Nörgeln und Unzufriedenheit auf hohem Niveau im immer-noch- Wirtschaftswunderland. Es gibt die „German Angst“, bei der jammerndes Tiefstapeln zur Erfolgsstrategie kultiviert wird. Es gibt ein Taktik-Jammern, mit dem der Kollege seine Arbeit auf die Kollegin abwälzt und sich in Fäustchen lacht. Die Psycholog*in Michael Thiel und Annika Lohstroh haben zudem analysiert, dass die latente Unzufriedenheit der Deutschen in einer tiefsitzenden Selbstunsicherheit wurzelt, die ihrerseits in der langen Geschichte der Obrigkeitshörigkeit der Deutschen begründet ist . Von preußischen Tugenden wie Unterwerfung und Abgabe von Verantwortung verläuft eine direkte Linie zum Dritten Reich.
Dennoch bestehe ich auf dem Recht zur Depression. Es ist das Recht darauf, authentisch zu sein. Es ist das Recht, mich mir selbst und anderen zuzumuten auch mit freudlosem Gesichtsausdruck und niedergeschlagenem Gemüt. Ob ich gefalle oder nicht. Ich bin wertvoll.
Seit dem Tod des Fußballers Robert Enke wird endlich offen über die vielen Menschen gesprochen, die schwer leiden unter der Freudlosigkeit ihres Daseins und auch über die Nöte ihrer Angehörigen, denen es oft sehr schwer fällt, das Leben noch leicht zu nehmen. Eltern und Partner*innen von Suizidant*innen trauen sich endlich mit ihren Traurigkeiten nach draußen, und Eltern von Sternenkinder haben erkämpft, dass man ihre Trauer ernst nimmt und Formen der Trauerbegleitung anbietet. Es ist gut, dass wir eine Gesellschaft sind, die es nicht mehr nötig hat, traurige Schicksale hinter Fassaden von Fröhlichkeit zu verbergen. „Wie`s drinnen aussieht, das geht Fremde nichts an“ war das Motto meiner Großmutter, wenn Melancholie sie überfiel unter den Härten, die das Leben ihr abverlangt hatte. Gott sei Dank leben wir auch in dieser Hinsicht in einer Demokratie.
Vor allem aber bestehe ich auf dem Recht auf gebrochene Biographien in der Kirche. Zweifler und Angefochtene, welche, die mit dem Teufel ringen müssen des nachts und auch welche, die ihren Glauben verloren haben- für sie ist die Gemeinschaft der Heiligen gemacht. Und die, die Jesu Abschiedsworte unserer Tageslosung als erste hörten, waren welche, die Grund zur Selbstanklage hatten und die weinten über ihr Versagen und den hohen Preis dafür. Dem Herrn selbst hat die Brutalität des Lebens das Rückgrat gebrochen und, es waren keine Freudentränen, die er weinte in seiner Gottverlassenheit am Kreuz. Darum soll es zu hören sein dürfen in unseren Gemeinden, dass Menschen herzzerreißend weinen und mit dem Schicksal hadern, und es soll zu sehen sein dürfen, dass wir verdammt hilflos sind und nichts weiter tun können als mitzuweinen.
Darum ist mir auch jedes Hallelujah-Christentum zutiefst zuwider. In welcher Vollmacht auch immer christliche Gesundbeter*innen und Wunderheiler*innen tätig werden, mir erscheint es unmöglich, dass es sich um den Geist des gekreuzigten Gottes handelt. Mögen sie Messehallen füllen und Spendengelder für gläserne Kathedralen einfahren, Grund zur Freude erscheint mir das nicht. Gott ist mitten in dieser Welt, und die ist nun einmal kein Schlaraffenland oder Märchenwald. Wirklichen Menschen begegnet Gott mittendrin in ihrem realen Leben, das eben nicht prallvoll angefüllt ist mit freudigen Ereignissen. Darauf muss ich bestehen, denn sonst hätte Gott mich ja gar nicht getroffen. Depressive Persönlichkeitsmerkmale machen es mir schwer, eine Repräsentanz von Souveränität sein zu können. Und dass ich das nicht mehr verleugnen muss, das ist mir ein echter Grund zur Freude und zur Dankbarkeit.
Mögen wir in Zeiten von Corona Gott Anlass geben, sich nicht über uns beklagen zu müssen. Im Moment sieht es für mich danach aus, als ob unsere Kirche eine gute Arbeit macht. Sie enthält sich frommer Beteuerungen, alles sei in Ordnung und nimmt die Ängste der Menschen ernst. Das gefällt mir.